Das Begreifen der Praxis
"Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus ist,
daß der Gegenstand, die Wirklichkeit... nur unter der Form
des Objekts ... gefaßt wird, nicht aber als... Praxis."
Ausgehend von dieser Marxschen Erkenntnis in der ersten These
über Feuerbach wurde seit dem Tode von Marx eine marxistische
Denk-Richtung entwickelt, die erstaunlicherweise nur in sehr kleinen
Zirkeln weiterlebt. Für die "Philosophie der Praxis",
wie sie seit Labriola genannt wird, ist es typisch, daß
es nicht "die eine Lehrmeinung" gibt, sondern verschiedene
Autoren verschiedene Begriffe in unterschiedlichen Bedeutungen
akzentuieren. Eine einheitliche Zusammenfassung ist deshalb (noch?)
nicht möglich. Jedoch sind die Grundstrukturen der Praxisphilosophie(en)
so bedeutsam, daß ich aus einigen gelesenen Büchern
dazu hier eine Zusammenstellung versuche.
1. Naturphilosophie
Nachdem ich mein erstes Buch im Sinne
eines weiterentwickelten "Dialektischen Materialismus"
geschrieben habe und mich dabei bemüht habe, auch viele "bürgerliche"
Erkenntnisse und "revisionistische" Ansätze wenigstens
kennenzulernen - um dann je nach konkreter Sachlage zu entscheiden,
welchen Ansatz ich wie integrieren kann und welchen ich warum
ablehnen muß - begegnet mir nun eine Theorie, deren Vertreter
schon erst einmal meinen Grundansatz kritisieren. Die Praxis-Philosophen
interessiert niemals die "Natur an sich" und ihre eventuelle
Dialektik - für sie ist nur eine "Praxis" Gegenstand
ihrer Theorie, die den Menschen bereits voraussetzt.
Der Praxisphilosoph Markovic schreibt:
"However, in the human world (with wich philosophy deals)
all objective structures are, in one way or another, mediated
by human activity and relative to it." (zit. in /2/, S. 70),
Hervorhebung von mir).
MeinGegenargument, daß die Welt auch bis zur Entstehung
des Menschen aus schöpferischer Materie bestand, wird von
einem anderen Zitat außer Gefecht gesetzt:
"Die alte Frage, was die objektive Priorität hat, was
"eher da war", Geist oder Materie... ist... schon in
ihrer Stellung sinnlos. Gegeben ist stets nur das Dasein als geschichtliches
In-der-Welt-sein..." (Marcuse nach /2/).
Dies widerlegt zwar nicht mein Argument, sieht es aber für
die Aufgabe des Denkens als unwichtig an, weil sich dies nur auf
die Fragen des Daseins innerhalb der menschlichen Praxis beziehe.
Das bedeutet für mich, daß für mein erstes Buch
aus der Kenntnis der Praxisphilosophie kaum Anregungen, Kritik,
Anstöße kommen können. Dies bestätigte sich beim Durcharbeiten
der Texte auch. Innerhalb meiner Texte zu den einzelnen inhaltlichen
Fragen werde ich jeweils genauer untersuchen, welche Ansätze,
Begriffe und Konsequenzen sich aus den indirekten Hinweisen aus
der Praxisphilosophie für das naturphilosophische Denken
ergeben.
Trotzdem ist die Praxisphilosophie für mich wichtig. Es gibt
interessante Resonanzen zu meiner Denk-Praxis. Tatsächlich
war es mir ja zu Beginn meines Buches schwergefallen, die Philosophie
als Wissenschaft vom Menschen methodisch überhaupt hineinzubekommen.
Das ganze erste Buch befaßt sich mit der Kosmologie und
der Biologie vor der Existenz des Menschen - inwieweit kann es
dann überhaupt Philosophie sein, wenn für diese der
Mensch zentral ist?
Innerhalb einer Wissenschaft von der "Stellung des Menschen
in der Welt" ist es allerdings sicher legitim, erst einmal
was zur "Welt" zu sagen, um die Fragen nach der Stellung
des Menschen in dieser ordentlich zu fundieren.
Auch das Menschsein sieht in einer schöpferischen Welt ganz
anders aus als in einer "entropischen", auf ihren Starre-Tod
wartenden. Ich habe den Menschen hineingebracht, indem
ich Frage des "Anthropischen Prinzips" an den Anfang
des Buchs gestellt habe. Damit habe ich zumindest eine menschliche
Fragestellungen an die Kosmologie begründet.
Aus der Sicht der Praxisphilosophie mache ich trotzdem einen Fehler.
Denn auch das Wissen über "die Welt" ist geprägt
von der Praxis der Menschen. Dies ist mir seit spätestens
einigen Jahren bewußt aus der feministischen Wissenschaftstheorie
und Sohn-Rethels Interpretation durch Jens Scheer (hierin wird
die Abhängigkeit der Erkenntnis von der Gesellschaft und
auch vom Geschlecht nachgewiesen und entsprechend betont). Ich
habe also kein absolut sicheres Wissen über "die Welt",
auf das ich bauen könnte. Jeder Mensch und jede Gesellschaft
stellt andere Fragen an die Welt. Er bekommt deshalb oft andere
Antworten von derselben - durchaus unabhängig vom Bewußtsein
existierenden - Welt.
Im Text selbst stelle ich dies selbst z.B. für die Kosmogonie
fest. Die Daten sind so uneindeutig, daß Ambarzumjan oder
seine Gegner recht haben könnten. Irgendwann erzwingt die
reale Welt eine Entscheidung, läßt dann aber wieder
vieles offen. Bis heute ist z.B. noch offen, ob die Quantifizierung
seit Galilei ("alles messen, was zu messen ist und meßbar
machen, was noch nicht meßbar ist") nicht überhaupt
die Wissenschaft auf eine zumindest einseitige Fährte gelenkt
hat, aus der wir noch lange nicht ausgeschert sind. Vielleicht
war/ist noch eine ganz andere - qualitative - Wissenschaft möglich.
An dieser Stelle könnte ich nun beginnen, die Geschichte
des Denkens zurückzuverfolgen. Z.B. könnte man den Entwicklungsbegriff
und den Umgang mit ihm sicher interessant mit gesellschaftlichen
Prozessen in Bezüge setzen.
Der Hinweis für mich aus der Praxisphilosophie ist also:
Vielleicht hätte das zweite Buch (Gesellschaftsprobleme)
zuerst geschrieben werden müssen - und die Naturphilosophie
dann abgeleitet aus der jeweiligen Lebenspraxis. Vielleicht wird
dies das dritte Buch??? - Dann werden die Inhalte aus meinem ersten
Buch dialektisch aufgehoben - einerseits historisch und lebenspraktisch
begründet, andererseits weiterentwickelt und genauer in heutige
parteiliche Interessenlagen integriert.
I.Schmidt verdeutlicht die Subjektbezogenheit des Naturbegriffs.
Natur ist für jedes Subjekt "bedingt durch das,
was es selber ist, geprägt durch jenen Umgang mit der Natur,
der ihm lebensgeschichtlich möglich war, seine individuelle,
sedimentierte Naturerfahrung." (/5/ 13). Sie ist die "durch
ihre Praxis vermittelte Wirklichkeit" (Givsan /5/ 46)
Jetzt habe ich schon wieder zwei Seiten zu nur einem Ansatzpunkt
aus der Praxisphilosophie geschrieben. Anregend ist sie also auf
jeden Fall.
In der Philosophie der Praxis sind nicht mehr die "Welt"
oder die "Materie" grundlegend sondern die "Praxis".
Auch das traditionelle Primat von Geist oder Materie wird ersetzt
durch das Primat der Praxis. Damit meint die Philosophie der Praxis
die "Grundfrage der Philosophie" aufzuheben.
In meiner Denk- und Lebenspraxis ist es allerdings durchaus nicht
unwichtig, ob es "nur" die Materie ist, die schöpferisch
Möglichkeiten zur Gestaltung enthält - oder ob da irgendein
Geist die Einheit und Evolution der Welt garantiert. Natürlich
kann mir das egal sein, wenn mich nur meine Alltags-Praxis mit
seinen Problemchen interessiert. Aber für das das Menschsein
bestimmende Übergreifende, Wissen-Wollende, Strebende ist
es schon wichtig, wohin ich greife, wenn ich gestalten will. Gibt
mir die Materie hier genügend Raum, oder muß ich mich
auf einen Geist verlassen? Politisch ist diese Orientierung nicht
ganz unerheblich.
Die grundlegende Differenz zwischen wichtigen alternativen politischen
Orientierungen läßt sich schon noch auf eine "alte
" Grundfrage zurückführen. Ist es primär notwendig,
das Bewußtsein der Menschen zu verändern (um sie für
neue, ökologisch verträgliche Lebensweisen zu öffnen),
oder könnte es primär sein, die materiellen Machtverhältnisse
zu verändern (Eigentumsordnung...), damit verändertes
Sein dann auch das Bewußtsein verändert.
Die Marxsche Lösung, daß die
Umstände und die Menschen sich gleichzeitig verändern
müssen, deutet auf die Begrenztheit beider Alternativen
und verbietet es, nach einfachen Lösungen auf jeweils nur
einer Seite zu suchen.
Zumindest analytisch beim Begreifen der Praxis nutzt mir das Zurückführen
von begrenzten politischen Praxen auf jeweils einseitige Konzepte
im Rahmen der "Grundfrage" durchaus noch.
Andererseits: Wenn Menschen aus einer spirituellen, also eher
aufs Geistige ausgerichteten Orientierung heraus praktisch etwas
Vernünftiges machen (Öko-Dorf), so war es aus der Sicht
der Praxis heraus tatsächlich unerheblich, ob sie "materialistisch"
oder "idealistisch" denken.
Meine Praxis vermittelte mir jedoch öfters die Erfahrung,
daß die eher aufs Geistige orientierenden Menschen eine
andere Art Praxis machen, als ich sie mir als sinnvoll vorstelle.
Wenn ich hinterfrage, warum ihre Praxis sich oft auf Einzelnes
beschränkt (z.B. aufs Individual- oder Gruppenpsychologische)
und andere Formen der Praxis nicht hinterfragt, kritisiert, bekämpft,
ändert... (wie Profitorientierung, Eigentumsverhältnisse...),
so finde ich die Ursache oft in der Beschränkung aufs Geistige,
das die anderen Formen der Praxis prinzipiell dem Geistigen unterordnet.
Interessanterweise ist die Kritik des "Materialismus"
in der Praxisphilosophie ausgesprochen beliebt. Eine ähnliche
Kritik eines zumindest einseitigen "Idealismus" habe
ich hier noch nicht gefunden. Vielleicht liegt das aber auch an
der näheren Verwandtschaft zum Materialismus, die hier abgearbeitet
wird.
Die Kritik des "Materialismus" hat aber nichtsdestotrotz
einige bedenkenswerte Hintergründe. Bereits Gramsci kritisiert
eine "Metaphysik der Materie" (Quaderni... 1489).
Ein mechanischer Materiebegriff gibt tatsächlich einen Angriffspunkt
für berechtigte Kritik. Wenn Materie als Träger der
Gesetze den Menschen gegenübergestellt wird, ergibt sich
die Konstellation, daß Menschen nur noch die materiellen
Gesetze "befolgen" , maximal ausnutzen und "überlisten"
dürfen.
Die Philosophie der Praxis betont demgegenüber die Unabgeschlossenheit
der menschlichen Praxis, die Offenheit, Potentialität.
Weil der Materiebegriff selbst geschichtlich/praktisch i.a. mit
einem dem Menschen fremd gegenüberstehenden Substratsbegriff
gleichgesetzt wird, wird er beim Kritisieren meistens fallengelassen
(ersetzt durch Praxis). Nur einem Ernst Bloch gestattet (kurzzeitig) man die
Verwendung eines "dialektisch-potentialen Materie"-Begriffs.
Ich finde alle Betonung der Potentialität auch in dem dialektischen
Materiekonzept eines Teils der DDR-Philosophie. Daß sie
drinsteckt, muß sich aber in der konkreten Verwendung stets
beweisen und deshalb akzeptiere ich die Kritik der Praxisphilosophen
als ständige Mahnung an mich.
Dies ist besonders bedeutsam bei der Frage, was Erkenntnis
eigentlich bezweckt und bewirkt. Im mechanischen Materialismus
"bildet" das Bewußtsein die objektive Materie
"ab" wie ein mehr oder weniger exakter Spiegel. Es wurde
auch erkannt, daß der Spiegel selbst eine Struktur hat und
das Bild deformiert, was aber wieder materiell vermittelt ist.
Schließlich wurde klar, daß das Ergebnis der Erkenntnis
immer zumindest eine "Einheit von Abbild und Entwurf"
(H.Ley) ist. In diesen "Entwurf" läßt sich
dann die erkenntnistheoretisch-historische und gesellschaftlich-parteiliche
Beeinflussung hineininterpretieren.
Die Praxisphilosophie verwirft das Widerspiegelungskonzept dagegen
grundlegend. Für sie ist Erkenntnis eine "besondere,
kreative Praxis" (/2/ 63), die den Lebensprozeß dauernd
neu "aufs Konzept bringt" (/2/ 13). Wiederum wird hier
richtigerweise die Offenheit betont.
Der Gegenstand ist nicht irgendeine fertige, sezierfähige
Materiesubstanz, sondern "die immer historisch vermittelte,
durch menschliche Praxis konstituierte Realität" (/2/
42).
Die Spezifik der Erkenntnis wird hiermit weder ausreichend spezifiziert,
noch "passen" die jeweiligen Begrifflichkeiten zueinander.
An anderer Stelle wird Realität als "ergriffene oder
zu ergreifende Praxis" (/2/ 32) definiert, was aus obiger
Bestimmung macht: Der Gegenstand der Erkenntnis ist die...durch
Praxis konstituierte ergriffene oder zu ergreifende Praxis. Außer
dem Herauslesen der Betonung der Offenheit kann kann ich damit
herzlich wenig anfangen. Die Besonderheit der erkennenden Praxis
durch "Kognition" zu erklären, reicht auch nicht
aus, weil dieser Begriff nicht begründet wird.
Trotz der unscharfen Begriffe ist das Ziel deutlich und akzeptabel:
Das Ziel der Erkenntnis ist nicht das Vorliegen eines "Abbilds".
Das Ziel besteht im "Begreifen der Praxis" zwecks erneuter
schöpferischer Praxis. Auf diese Weise wird Wissenschaft
nicht zum allumfassenden Lexikon des positiv Gegebenen, sondern
zur "schöpferischen gesellschaftlichen Potenz"
(/2/ 43).
Es geht nicht um eine Erklärung des Vorhandenen, sondern
um Kritik mit einem Primat der Praxis (Schmied-Kowarzik in /1/
21). Dazu wird in /5/ ein Unterschied im Wissenschaftsverständnis
zwischen Marx (Kritik, Umwälzung, Befreiung, offene Entscheidungen
der Menschen) und Engels (Zusammenfassung, Organisation, Planmäßigkeit,
"Einbindung" der Menschen) diskutiert.
Der Sinn der Wissenschaft besteht (nach Marcuse) darin, wahre
Erkenntnis aufzufinden, die Praxis freisetzt (nach /2/
145).
Für die Erkenntnis gibt es insofern kein "Objekt",
sondern der erkennende Mensch "muß das, woran er
sich orientiert, gleichzeitig in Frage stellen" (Flego
in /3/, S. 95).
Für die Philosophie kommt G. Petrovic
schließlich sogar dazu, nicht eine Philosophie der Praxis
weiterzuentwickeln, sondern zum Denken der Revolution weiterzugehen:
"Das bedeutet, daß der Philosoph
erst dann auf der Ebene seiner Potentiale steht, wenn er das Schöpfen,
die Freiheit, das Ändern der Menschen und der Welt - also
die Revolution denkt."
Auf die Geschichte angewandt bedeutet dies, daß Wissenschaft
nicht etwa eine "Prozeßordnung" der Gesellschaft
aus der geschichtlichen Erfahrung herausfiltern kann, sondern
immer nur konkrete Situationsanalytik (nach Gramsci) anleitet,
die die Offenheiten und Bedingtheiten konkret analysiert.
Diese recht vagen Aussagen zur Wissenschaft erklären bisher
nur, was die Praxisphilosophen damit wollen. Sie wollen keine
Summe positiven Wissens über eine statische Welt/Materie,
sondern die Wissenschaft soll begreifendes Eingreifen in die
Praxis ermöglichen. Dies bedeutet, daß die Interessen
der Menschen bewußtgemacht und offen eingebracht werden.
Zwar begannen alle Lehrbücher des "Marxismus-Leninismus"
mit der Begründung der Parteilichkeit der "Weltanschauung
der Arbeiterklasse", also der Offenlegung ihrer Interessen
- aber in Form der "Einheit von Wissenschaftlichkeit und
Parteilichkeit" war man überzeugt davon, daß nur
die Interessen der Arbeiterklasse allein die "richtigen",
"objektiven", "allgemeinen" waren. In der
Praxisphilosophie wird die Praxis und Interessen aller Menschen
ernstgenommen.
Über Absichtserklärungen hinaus ist dieser neue Praxis-Wissenschaftsbegriff
jedoch noch nicht geführt worden.
Neben der Kritik betont H.Müller (/4/ 88) die konkrete
Utopie im neuen Theorietypus
seit Marx. Sie ergibt sich aus der Marxschen Methode, der Welt
aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien zu entwickeln. Kritik
bedeutet danach immer auch, versteckte, noch-nicht gekannte Möglichkeiten
der aktuellen Welt ins Bewußtsein zu bringen. Deshalb hat
die Kritik ihren Ausgangspunkt im Bestehenden und ihren Endpunkt
außer ihm (vgl. Flego in /5/).
An verschiedenen Stellen berührt sich die Wissenschaftskritik
der Praxisphilosophie mit der aus alternativen, vor allem ökologischen
und feministischen Bewegungen. Die Praxisbezogenheit vereint sie
- die genannten alternativen Konzepte stellen jedoch die Revolutionsforderung
der Praxisphilosophie eher zurück und betonen die Wichtigkeit
historisch bewährter partnerschaftlichen Weisheiten, die
eher langsamen Verbesserungen von Züchtungen bei Kulturvölkern
z.B. in Indien. Beide sind berechtigt und betonen jeweils verschiedene
Aspekte des Entwicklungsprozesses (Phasen relativer Stabilität
der Grundqualität und sprunghafte Qualitätsänderungen
an notwendig erreichten kritischen Punkten, vgl. Selbstorganisationskonzept,
Dialektik).
Ein weiterführender Ansatz deutet sich vielleicht an, wenn
man Wissenschaft als Wesenserkenntnis definiert. Das Wesen der
Dinge ist nicht nur eine den Dingen (der "Materie")
einbeschriebene unbeeinflußbare Eigenschaft, sondern hängt
wesentlich von den Wechselwirkungen der Dinge ab - damit von ihrem
Eingebundensein in die Praxis des erkennenden und handelnden Menschen,
der menschlichen gesellschaftlichen Praxis. Das Wesen enthält
selbst den bewegenden Widerspruch. Entsprechend der jeweiligen
Bestimmung von Praxis-Bereichen als Systemen, die durch eine Grundqualität/
ein Wesen charakterisiert werden, ist dann Wissenschaft möglich.
Das Wesen umfaßt alle notwendigen Praxis-Perspektiven.
Auf diese Weise wird dann auch derGesetzesbegriff integriert,
von dem M.Markovic in /3/ entsprechende Forderungen aufstellt,
die meines Wissens nach am besten in der statistischen Begriffsbestimmung
des Gesetzes von H.Hörz enthalten sind.
An diesen Stellen sehe ich überhaupt keinen Grund, von den
in meinem Buch angeführten Argumentationen abzugehen. Man
könnte zwar ständig auf die Praxisphilosophie gemünzte
Kommentare einfügen, aber inhaltlich würde es keine
Änderungsnotwendigkeiten geben. Eine Abbildung zur Methodik
habe im Manuskript allerdings noch etwas verändert, indem
ich die Praxis die Theorie mit enthalten lasse und sie nicht einander
gegenüberstelle.
3. Mensch und Praxis
Entscheidender und für mein zweites Buch grundlegend sind
die tatsächlichen Aussagen zum Menschen und zur menschlichen
Praxis. Ich hatte mich für die Vorbereitung der Methodik
für das zweite Buch bisher ein wenig
wie die Katze um den heißen Brei geschlichen. Letztlich
entschied ich mich, das sich entwickelnde Mensch-Natur-Verhältnis als
Ausgangspunkt zu nehmen. Auf diese Weise gelangt der Arbeitsbegriff
ins Zentrum und die jeweils historisch und kulturell bestimmte
und bedingte Gesellschaftlichkeit leitet sich ab.
Jetzt hilft mir der praxistheoretische Ansatz dazu, diese Sachen
zu integrieren. Es wird sicher auch einige konkrete inhaltliche
Punkte geben, die ich übernehme.
Die Philosophie der Praxis - oder das Denken der Revolution -
stellt den Menschen konsequent in den Mittelpunkt.
Menschliches Sein wird nach Petrovic bestimmt als freie, schöpferische
Tätigkeit, durch die der Mensch seine Welt und sich selbst
schafft.
Typisch für den Menschen ist dabei, daß er immer
Neues schafft. Deshalb ist nicht nur der sich ständig
selbst reproduzierende Prozeß "Praxis" für
den Menschen wesentlich, sondern die qualitativ Neues schaffende
Revolution (Petrovic).
Aus der Kenntnis der Naturdialektik heraus muß man allerdings
feststellen, daß auch die Evolution der nicht-menschlichen
Natur Möglichkeitsfelder umfaßt, daß Neues entsteht,
daß jeder Bereich der Natur sich selbst und seine Umgebung
beeinflußt und gestaltet. Das ist noch nicht das Neue des
Menschen. Die spezifisch menschlichen Evolutionsprinzipien müssen
genauer herausgearbeitet werden. Dies gilt auch für die folgende
Bestimmung des Wesens des Menschen:
"Das Wesen des Menschen
ist nicht das, was er schon ist, sondern das, was er noch werden
kann." (G.Flego in /1/ 75).
Manchmal jedoch ist das, was er noch werden kann, eine "Negation
der Negation" alter Fähigkeiten von Kulturvölkern
zum partnerschaftlichen Zusammenleben mit ihrem "unorganischen
Leib", der äußeren Natur. Darauf verweisen insbesondere
die Ökofeministinnen, die in aktuellen
Kämpfen um die Wälder, gegen Dammbauten z.B. in Indien
besonders in den Frauen aktive und schöpferische Subjekte
dieser Rückbesinnung sehen (/7/,/8/).
Diese Wesensbestimmung gilt für alle Materiebereiche - für
den Menschen bewußt gemacht begründet es einen Optimismus.
Der Mensch ist nicht der Urmensch, der er einmal war, nicht der
Sklave, der er einmal war, und er ist auch nicht der Lohnarbeiter,
der er heute ist. Er ist das, was er aus sich macht. Das kann
man dem Menschen im Alltag schwer erklären, der aus sich
selbst nichts macht. Aber in den tiefsten Tiefen verspürt
auch er das Bedürfnis danach (Bloch weist dieses "Noch-nicht-Bewußte",
den "Vor-Schein" im "Prinzip Hoffnung" auf
vielfältige Weise nach). Aber meist werden diese Bedürfnisse
jetzt noch kompensiert durch die Tätigkeiten und Fetische,
die heute anscheinend den Menschen zum Menschen machen (Arbeitsethos,
Dinge besitzen...).
Nach Bloch ist "der Mensch...invariant gerade als das sich
... stets überschreitende Wesen."
Daß die Menschen noch eine stärkere, qualitativ neue
Potenz zur Freiheit haben als die nicht-menschliche Natur ist
dann doch in ihrer Spezifik begründet. Der Mensch unterscheidet
sich vom Tier dadurch, daß er die Mittel für sein eigenes
Dasein und damit die Bedingungen für sein Existieren erzeugt.
Er ist das einzige Wesen, das die meisten Bedingungen seiner
eigenen Existenz selbst hervorbringt (G.Flego in /1/75).
Zusätzlich zu den allgemeinen Fähigkeiten des Lebendigen
verfügt der Mensch über Bewußtsein und kann seine
Autonomie so weit steigern, daß er die natürlichen
Kräfte der Umgebung in zunehmendem Maße erkennt und
kontrolliert. Er schöpft sich selbst mit einem zunehmenden
Reichtum der Bedürfnisse (Markovic in /3/ 163).
Diese Aktivitäten des Hervorbringens sind aus der Sicht der
Individuen Handlungen, aus Sicht der gesellschaftlichen Verhältnisse
konstituieren sie die Praxis.
Der Praxisbegriff und die Bestimmung des Menschen gehören
direkt zusammen. G. Petrovic schrieb dazu:
"Diese dem Menschen eigene Art des Seins bezeichnet Marx
mit dem Wort "Praxis".
Der Mensch ist für Marx das Wesen der Praxis." (in:
Wider den autoriären Marxismus, FaM, 1969, S. 73f.)
Praxis ist damit nicht nur ein "Kriterium für
die Wahrheit", oder das Substrat einer "Veränderung
als Machen". Es ist selbst die "schöpferisch-selbstschöpferische
Tätigkeit des Menschen" (Flego in /1/).
Einige andere Definitionen aus den verschiedenen Texten will ich
der Vollständigkeit halber noch anführen:
Praxis =
- des Menschen eigene Art des Seins (Petrovic)
- spezifisch menschliches Tun mit Synthesis-Charakter (H.Givsan
in /3/ 53)
- Gestalt, in der die Wirklichkeit lebensformbestimmt verfaßt
und ausgefüllt ist (/2/35)
- Sinn, der sich spontan im Schnittpunkt der Handlungen abzeichnet,
durch die der
Mensch seine Beziehungen zur Natur und zu den anderen Menschen
organisiert
(V.Descombes, zit. nach /2/ 73)...
Der Praxisbegriff will betonen, daß gesellschaftliche Strukturen
nicht einfach als "Materielles" vorliegen, sondern stets
und ständig als Prozeß gerade erst erzeugt werden.
Jede Struktur ist ein Prozeß. Die Autopoiese betont dies
für alles Lebendige; der "dialektische und historische
Materialismus" wußte dies auch längst, hat es
aber nicht sehr stark betont und alle Konsequenzen ausgearbeitet.
Mit der Prozeßsicht wird die Veränderbarkeit, das
noch Offene, das noch Mögliche,
das entstehende Neue besonders betont. Dies entspricht dem
revolutionären Anspruch eher als das "Befolgen objektiver
Geschichtsgesetzmäßigkeiten", das im herrschenden
"ML" meist propagiert wurde. An dieser Stelle wird wieder
deutlich: Alle die "neuen" Aspekte wurden von einigen
Vertretern des "ML" durchaus vertreten und im Einzelnen
bearbeitet - aber auf die herrschende Ideologie bekam dies keinen
prägenden Einfluß. Trotzdem kann ich auf dieser Basis
aufbauen. Meine bisherige Arbeit besteht
in dem - Ernst Bloch bestätigenden - Nachweis, daß
sogar die Natur/Materie ohne den Menschen schöpferisch und
kreativ ist, ständig Neues erzeugt und stabilisiert. Neben
dem Nachweis und als eigentlich Wichtigstes steht die Erkenntnis
von typischen Prinzipien der Evolution (die Bloch noch nicht so
genau kennen konnten und die ihn auch nicht so wesentlich interessierten),
die auch noch für den Menschen gelten. Die Menschen als höchstes
Entwicklungsprodukt der Natur entwickeln nun neue Evolutionsprinzipien,
die durch die "natürlichen" (im Sinne von vor-
und nebenmenschlichen) Prozesse nicht abgedeckt sind. Hier kommen
neue Qualitäten der Offenheit in die Welt, die Bewußtheit,
die Gefühle, die gesellschaftlichen Prozesse in Kultur, Arbeit
- insgesamt der Praxis.
4. Praxis und Arbeit
Der Begriff der Arbeit und sein Bezug zum Praxisbegriff ist nur
sehr ungenau bestimmt.
Das menschliche Wesen kann als bestimmt von der Arbeit oder von
der Praxis dargestellt werden. Wird die Arbeit zur wesensbestimmenden
Tätigkeit, so enthält sie die Inhalte, die ansonsten
der Praxis zugeschrieben werden.
Die Praxisphilosophen dagegen verwenden die Praxis als wesensbestimmenden
Prozeß und sehen als Arbeit nur jeweils konkrete Teilprozesse
der Praxis an. Zusätzlich kommt noch eine begriffliche Unklarheit
durch die mögliche Nicht-Unterscheidung von Arbeit und Lohn-Arbeit hinzu.
Arbeit ist begrifflich verbunden mit der Bestimmung, den
"Stoffwechselprozeß der Menschen mit der Natur"
zu realisieren. Auch Wissenschaft wird in diesem Sinne oft als
"allgemeine Arbeit" einbezogen.
Lohn-Arbeit dagegen als historisch konkrete
Form der Arbeit im Kapitalismus wird analysiert in ihrer doppelten
Bestimmung als abstrakte und konkrete Arbeit. Da es um die Abschaffung
des Kapitalismus geht, steht hierfür die "Befreiung
von der (Lohn-)Arbeit" auf dem Plan. Dadurch wird
der allgemeine Arbeitsprozeß "befreit" und diese
Aktion erscheint als "Befreiung der Arbeit".
Schon diese Unterscheidung ist für politische Orientierungen
wichtig. Der "Kampf um Arbeitsplätze" dient zwar
kurzfristig der Existenzsicherung der Menschen innerhalb des Systems
- verfehlt aber die Haupt-Richtung der Emanzipationspotenzen auf
dem gegenwärtigen Stand der Kultur- und Technologieentwicklung
der Menschheit.
Arbeit zur materiellen, kulturellen und geistigen Reproduktion
der menschlichen Gesellschaft wird es immer geben. Von dieser
kann sich die Menschheit nicht befreien. Allerdings wäre
es auch nicht befreiend, die notwendige Arbeit wieder "langsamer
und mit mehr Muße" zu verrichten und die Lebens-Zeit
der Menschen damit vollzufüllen. Menschen sind keine Wesen
im immergleichen Kreislauf, sondern sie akkumulieren Kultur, um
Neues zu schaffen, sich und ihre Umwelt schöpferisch umzugestalten.
Dazu muß die (jeweils historisch bestimmte) notwendige Arbeit
zurückgedrängt werden, Freiräume für den "wirklichen
Reichtum", die "freie Zeit" müssen ermöglicht
werden (neue Lebens-Arbeits-Zeit-Modelle z.B. in USA: halbjährl.
Wechsel von Arbeit und Freizeit verändertes Freizeitverhalten,
Wachstum von Kreativität...)..
Den Arbeitsbegriff allein als wesensbestimmend für den Menschen
darzustellen, wirft die Frage auf, daß ja dann alles, einschließlich
der wirklichen Muße- und Träumerstunden unter Arbeit
zu verbuchen wäre, denn auch diese sind wesentlich fürs
Mensch-Sein.
Deshalb neige ich dazu, im Praxisbegriff den allgemeineren, das
Wesen des Menschen bestimmenden zu sehen. Die Bevorzugung des
Arbeitsbegriffs ist sicher noch ein Reflex auf den eingefleischten
protestantischen Arbeitsethos.
Der Praxisphilosoph Kangra begründet die Unterordnung der
Arbeit unter die Praxis auch damit, daß der Mensch, wäre
er nur ein Arbeitswesen, schon vollendet wäre. Die Praxis
betont das Offensein (nach /3/ 104).
Daß diese Formen des Tätigseins unterschieden werden
müssen, untersucht auch Hannah Ahrendt. Für sie ist
die Arbeit der biologisch-ökologisch notwendige Stoffwechsel
mit der Natur. Das Herstellen als Verbessern der Natur
durch Artefakte und "widernatürlicher" Eingriff
bezieht sich auf geschichtliche Bedürfnisse und erst das
Handeln ohne Zwecke und Erwartungen
weist ins Offene des noch möglichen Beginnens von Neuem.
Meine Zusammenfassung der auch von mir unterstützen Intentionen
dieser Unterscheidungen hat ungefähr dieses Ergebnis:
Praxis umfaßt alle schöpferisch-menschlichen
Tätigkeiten, auch ohne Zweck und Absicht, ohne Wertschöpfung
oder nachzuweisende Nützlichkeit für den Einzelnen oder
andere. "Freiheit ist das wesentliche Kennzeichen der Praxis."
(Markovic in /3/ 163).
Arbeit im allgemeinen Sinne ist notwendig zur einfachen
und erweiterten Reproduktion des materiellen und kulturellen Lebens
- ist jedoch zweckgerichtet, absichtsvoll, nützlich
für den Einzelnen und andere.
Eine spezielle, historisch konkret bestimmte Form der Arbeit ist
die Lohn-Arbeit, bei der die objektivierbaren Teile der
(subjektiven) Arbeitskraft verdingt/(verkauft?) werden.
Übergänge zwischen diesen Tätigkeiten existieren
immer. Lohn-Arbeit kann (muß aber nicht immer) auch nützlich
sein, Arbeit und sogar manche Lohn-Arbeiten können Aspekte
der Freiheit enthalten und verwirklichen. Jedoch kann auch der
Zwang zur Verdingung der Arbeitskraft den subjektiven Teil der
Fähigkeit, zu arbeiten und zu leben, empfindlich deformieren
und zerstören.
Die aktuellen Möglichkeiten (aufgrund des erreichten Entwicklungsstands
der menschlichen und technischen Produktivkräfte) enthalten
jedoch die Befreiung von der Lohn-Arbeit und damit die
Befreiung der Arbeit. Menschliches Leben vergrößert
auch die Freiräume der nicht-arbeitsbezogenen Lebens-Praxen.
Dieses sind die Horizonte der Emanzipation.
Die Relativierung der an Zwecke, Werte und Nutzen gemessenen Arbeit
zeigt sich in einer konsequenten Kritik des Primats der Ökonomie.
Zur Kritik der Ökonomie werden von den Praxisphilosophen
verschiedene Vorschläge gemacht.
1. wird in diesem Sinne
tatsächlich nicht nur die kapitalistische Ökonomie kritisiert,
sondern den Zustand, daß die Ökonomie das Leben der
Menschen primär bestimmt.
Das Leben soll sich gerade nicht der Ökonomie unterwerfen
- sondern die Ökonomie soll von der Gesellschaft bewußt
gestaltet werden.
In den staats-sozialistischen Ländern diente genau dieser
Hintergrund dem Argument des "Primats der Politik vor der
Ökonomie", das als Vorwand für dirigistische Eingriffe
der Partei genutzt wurde, aber in seiner ganzen Bedeutung niemals
akzeptiert wurde.
In der Evolution der Menschheit gibt es wie in jeder Evolution
verschiedene Etappen. Das "Reich der Notwendigkeit"
erzwang den Vorrang der Ökonomie angesichts allgemeiner Knappheit
aus Gründen unentwickelter menschlicher und technischer Produktivkräfte
(wobei auch dies noch genauer und konkret zu untersuchen wäre.
Es stimmt auf jeden Fall nicht für alle Zeiten und alle Gegenden
der Welt, also nicht für die gesamte Menschheit). Wie jede
Evolution gelangt diese Art des prozeßhaften
Seins aber an selbsterzeugte Schranken, die mit dem gegenwärtigen
Stand der Produktivkraftentwicklung längst erreicht sein
sollten. Die Menschen könnten mit wenigen Stunden notwendiger
lebendiger Arbeit pro Woche/ Monat die historisch und kulturell
bestimmten materiellen Bedürfnisse befriedigen. Das "Reich
der Freiheit", in dem der wirkliche Reichtum in freier Zeit
(die wir uns ja alle wünschen) besteht, wäre bereits
möglich. In diesem Sinne propagiere ich auch die "Befreiung
von der Arbeit". Hier ist also die Orientierung an
der Ökonomie, der Effektivität usw. insgesamt zu kritisieren.
2. Damit hängt auch
zusammen die Frage, ob es nur das Abpressen und die Enteignung
von Mehrwert ist, die als Ausbeutung zu kritisieren und aufzuheben
ist - oder ob die gesamte Vergesellschaftung über den Wert
zu kritisieren ist. Die Werterzeugung ist in der ersten großen
Etappe der Menschheitsentwicklung, dem "Reich der Notwendigkeit"
der Prozeß, in dem sich die Gesellschaft strukturiert. Dies
bedingt eine Entfremdung von den nicht mit Wertgrößen
belegten Aspekten des Menschseins, den nicht verwerteten Bedürfnissen
und Fähigkeiten. Für die Menschheit besteht jetzt also
nicht nur die Aufgabe der Beseitigung der Enteignung des Mehrwerts
auf Grundlage der Trennung von Arbeitskräften und Produktionsmitteln,
sondern sich vom Diktat der Werterzeugung insgesamt zu trennen.
Dies steht in einem engen Zusammenhang dazu, daß die gerade
an ihre Schranken stoßende Vergesellschaftungsform nicht
nur als Kapitalismus zu kritisieren ist, sondern als dem Kapitalismus
wie dem Staats-Sozialismus gleichermaßen zugrundeliegende
Fetischisierung des Werts. Diese Vergesellschaftung beruht technologisch
auf dem Industriesystem, das ebenfalls in Form einer Negation
der Negation zu kritisieren ist.
"Die Anerkennung (dessen, was die Industrie für die
Geschichte bedeutet) ist dann zugleich die Erkenntnis, daß
ihre Stunde gekommen ist, abgeschafft zu werden oder die materiellen
und gesellschaftlichen Bedingungen aufzuheben, innerhalb deren
die Menschheit als ein Sklave ihre Fähigkeiten entwickeln
mußte... " (Marx: Kritik des nationalen Systems der
politischen Ökonomie von Friedrich List, Berlin 1972 (Archiv-Drucke
1), S. 28f.)
3.
Von verschiedenen Autoren wird diskutiert, daß
die Arbeitskraft als subjektive Seite der Produktion (Subjekt:
produzierend sein) keine Ware (Produkt = Objekt) sein kann. Im
Arbeitsvertrag kauft der Kapitaleigner nur die Objektseite der
Arbeitskraft, nicht die gesamte "Fähigkeit, Arbeit zu
leisten" (W.Sesink, /1/ 386). Dies entspricht ganz gut
meinen persönlichen Gefühl: ich verkaufe doch nicht
Mich, sondern nur einen Teil von mir, den Teil, den der Bezahler
gebrauchen kann. Und das ist nicht das Wichtigste meiner "Fähigkeit,
Arbeit zu leisten". Dieses behalte ich schön für
mich und wende es in der Freizeit an.
4. Marx kennzeichnete
die Natur als wichtige Voraussetzung aller Produktion,
als "unorganischen Leib" des Menschen. Als Produzent
des Mehrwerts erkannte er jedoch nur die menschliche Arbeitskraft
selbst an. Die Natur nicht nur als passives Objekt der Natur-Aneignung
des Menschen, sondern als Mit-Produzent im Blochschen Sinne motiviert
jedoch eine Einbeziehung der Natur in die Mehrwertschöpfung
(H.Immler in /3/). Die Kritik der politischen Ökonomie bekommt
dann wesentliche Ergänzungen (vgl. auch Altvater, Tjaden...).
5.
Nicht nur die Lohn-Arbeit steht dem Kapital als ausgebeutete
Arbeit gegenüber. Die Mehrheit der Menschen, nämlich
die Frauen, speziell im Trikont, haben nie die Chance, über
feste Arbeitsverträge wenigstens ihre Reproduktionskosten
als Lohn zurückzuerhalten für ihre Arbeit. Auch innerhalb
der kapitalistischen Länder wird genau diese privilegierte
Form der Ausbeutung gerade massiv abgeschafft (neue "Selbstständigkeit",
strukturelle Massenarbeitslosigkeit, Diskurs über "überflüssige"
Menschen...).
Als Positivum spricht H.Müller der nichtindustriellen Dienstleistungstätigkeit
die Möglichkeit zu, die industrielle Arbeit eines Tages usurpieren
zu können (/2/). Allerdings bleibt er damit innerhalb der
Verwertungslogik.
6. Der Widerspruch zwischen
mehrwerterzeugender Arbeitskraft und dem enteignenden Kapital
schien für Marx in Form von zwei soziologisch vorliegenden
Klassen vergegenständlicht (ontologisiert) zu sein. Tatsächlich
jedoch könnte es so sein, daß die Klassen nur
"verschiedene Funktionsträger ihrer gemeinsamen historischen
Basisform" (R.Kurz in /1/ 162) darstellen. Letztlich produziert
die Arbeitskraft das Kapital (ein Generalstreik würde das
sofort beenden).
"Nur wer das Kapital produziert, kann auch damit aufhören.
Aber wenn er sich mit dem Kapitalzweck identifiziert, kann er
doch nicht damit aufhören." (W.Sesink in /1/ 387)
Die neuen Aussichten auf ein historisches "Recht auf Faulheit"
lassen es überhaupt als verfehlt ansehen, in den Arbeitern
allein ein schöpferisches Potential zu sehen.
Das bisherige Trägersubjekt für die Revolution, die
Arbeiterklasse, geht damit in dieser Form verloren. Neue Befreiungsbewegungsformen
und -subjekte (zu Subjekten siehe 4.: Menschen, die Naturinteressen
vertreten und 5.: Frauen, Dienstleistungssphäre; zu Formen:
siehe Netzwerke, gewaltfrei-anarchistische Theorien...) müssen
als solche überhaupt erst einmal erkannt werden. Auch die
Einbeziehung der Natur-Interessen - nicht nur in ihrer Eigenschaft
als Voraussetzung menschlicher Produktion, sondern als aktives
Subjekt einer möglichen Mensch-Natur-Technik-Allianz (Bloch,
Das Prinzip Hoffnung, ca.S.805-813) verändert die Sicht auf
die gesellschaftlichen Kräfte.
Diese Konsequenzen praxisphilosophischen Denkens berührten
natürlich den Kern des Machtanspruchs der führenden
Kader der Arbeiterbewegung - und führten zum Anti-Kommunismus-Vorwurf.
Aus der heutigen Sicht sollte eine vorurteilslose Arbeit an den
Sachfragen selbst möglich sein. Notwendig ist sie auf jeden
Fall.
5. Politische Praxis
Praxis ist prinzipiell nicht nur der Prozeß der sich selbst
stabilisierenden Rückkopplungs, sondern ist "bestimmte
Negation der bestehenden Wirklichkeit" (H.Givsan /3/
57). Einen der Hauptvertreter der Praxisphilosophie führte
diese Erkenntnis auch zu einem konsequenten Denken der Revolution
(Petrovic).
Da die bestehende Wirklichkeit einerseits im realen Kapitalismus
wie auch im Staats-Sozialismus zu kritisieren war, besteht die
politische Praxis vorwiegend in der theoretischen wie praktischen
Kritik dieser Gesellschaftsformen.
Eine Einheit ergibt sich aus der Einheit der Ökonomie beider
Formen, die in der Wert-Vergesellschaftung und der Zentralität
von Ökonomie und technologisch-organisatorisch im Industriesystem
liegt bzw. lag. Aus dieser Sicht war Marxens Utopie "irreal,
von Anfang an.
Eine solche personale Vergesellschaftung <wie
sie Marx wollte..., A.S.> läßt sich unter modernen
industriellen Bedingungen nicht realisieren. Wir haben uns zu
begnügen mit der niederen Phase. Eine industrielle Vergesellschaftung
ist ohne Warenverkehr nicht möglich." (E.Braun /1/ 125).
Für die Aufhebung der Entfremdung als Aufgabe finde ich nun
in den Texten recht wenig praktische Hinweise. Einerseits gibt
man für die nächste Zeit größere Revolutionen
auf und orientiert auf die Zivilisierung des Kapitalismus:
"Weit davon entfernt, daß diese "modern-bürgerliche
Gesellschaft" zur Ablösung durch eine von Grund auf
andere anstünde, käme es überhaupt erst einmal
darauf an, daß sie sich als bürgerliche, d.h. durchgängig
zivil verfaßte Gesellschaft dauerhaft etablierte."
(H.Fleischer, /1/ 223).
Dies widerspricht in höchstem Maße den praktischen
Erfahrungen mit der jetzt immer unverhüllter ausbrechenden
ökologischen und menschlichen Barbarei des normalen realen
Kapitalismus. Jede Aktivität zur Rettung sozialer "Errungenschaften"
und ökologischen Überlebens ist notwendig, insofern
auch die "Zivilisierung" der Barbarei. Aber an eine
dauerhafte Etablierung ist nicht zu denken - und hier wird doch
die Einbeziehung der gesamten Praxis gebraucht, die Wesenserkenntnis,
die Sicht auf das noch Offene, Mögliche über die Grenzen
dieser Gesellschaft hinaus. "Weit davon entfernt... daß
eine Ablösung anstünde..." - wieso dies??? Sicher:
Prozesse laufen recht lange auf den vorgegebenen Bahnen dahin
- aber sie erreichen grundlegende Schranken ihrer Qualität,
und dann erfolgt eine schöpferisch nutzbare Krise sprunghaft.
Ich denke, daß die oben zitierte Aussage prinzipiell der
Denkweise der Philosophie der Praxis und Revolution widerspricht,
also nicht die wesentliche Konsequenz ist. Viel mehr an Aussagen
dazu habe ich aber nicht gefunden.
Konkret wird in der mir bisher zugänglichen Literatur nur
an einer anderen Stelle argumentiert: Da auch Sozialdienstwerte
in den Warenwerten enthalten sind und die Sozialdienste zunehmen,
könnten diese die industrielle Arbeit unter sich usurpieren
(H.Müller in /1/). Aber auch hier stelle ich eine starke
Begrenztheit der Aussage fest. Es sollte doch die Wert- Vergesellschaftung
überhaupt kritisiert werden und die Sozialdienste sind selbst
ein schlechtes Beispiel für Emanzipation. Verwertbar gemachte
Sozialdienste bedienen zwar die Lobby von Sozialarbeitern, haben
aber nur wenig oder nur indirekt mit der von der Praxisphilosophie
angestrebten Emanzipation aller Menschen als Subjekte zu tun.
Emanzipierte Subjekte brauchen keine Sozialdienste mehr - sie
nehmen ihr Leben - völlig jenseits von Verwertungskategorien
- in die eigenen Hände!
Wichtiger ist dagegen der Verweis auf die "kommunistische
Revolution (...) gegen die bisherige Art der Tätigkeit"
(MEW 3, 69f.) überhaupt (bei E.Gruber in /3/).
Hier fällt mir als sozial-politischer Träger dieser
Forderungen nur die Arbeitslosen- und Sozialhilfebewegung ein.
Wichtig ist auch der Disput um die Möglichkeit der Einbeziehung
des Verhältnisses der Menschen zur Natur in das Begreifen
der Praxis (/4/). Die Debatte zeigt die Möglichkeiten der
Einbeziehung der Natur in die Wert-Begrifflichkeit - aber auch
die prinzipielle Möglichkeit und Notwendigkeit, die Beschränkung
der "Ökonomisierung", "In-Wert-Setzung"
und Quantifizierung überhaupt zu diskutieren und nachzuweisen
(Immler in /4/). Dies ist besonders für die politische Orientierung
bei der Abstimmung von sozialen und ökologischen Bedürfnissen
und Interessen wichtig.
Bisher wird eine Möglichkeit der Anwendung des praktischen
Begreifens der Praxis noch nicht genutzt (ansatzweise nur durch
M.Blumentritt in /4/ 182, 183). Auch der Staats-Sozialismus
war gelebtes Leben, war Praxis. Er war nicht nur Ideologie, die
ideologiekritisch abzuarbeiten ist. Über 70 bzw. 40 Jahre
lang arbeiteten, verbrauchten, liebten, strebten Menschen in ihrer
Lebens-Praxis. Einerseits war es eine "Anomalie auf einem
regionalen "Sonderweg"" (H.Fleischer, /1/ 225)
- andererseits war es eine Leistung, jeden Tag, jede Woche, jeden
Monat, jedes Jahr und Jahrzehnt einfach nur das Leben aufrechtzuerhalten,
einen Krieg zu überstehen, Industrien und Kulturen zu entwickeln,
die bis zur Erschöpfung des ökonomischen Wegs der extensiven
Erweiterung doch für eine Mehrzahl der Menschen ein lebenswertes
Leben ermöglichten. Die Bilanz des realen Kapitalismus wird
- weltweit und zeitübergreifend gesehen - um kein Jota besser
aussehen. Ist auch er eine "Anomalie"? Oder sind beide
Wege als historisch und kulturell bestimmte und bedingte Formen
möglicher menschlicher Praxis zu verstehen und zu begreifen?
6. Bilanz
Obwohl ich mein bisheriges Denken nicht aufgeben muß, ergibt
sich einiges "Begreifen meiner Praxis"
aus dem Praxiskonzept.
Ich kann meine Methodik, daß ich in dem ersten Buch schon
viel von mir selbst hineinschrieb, jetzt noch anders begründen,
als daß es mir so mehr Spaß gemacht hat. Es ist legitimiert
durch das Praxiskonzept. Das Denken ist nur ein Teil meiner Praxis.
Ich finde hier auch meinen (noch(?) nicht verwirklichten) Plan
wieder, eine Diskussionsgruppe in Jena aufzumachen,
in der nicht die großen Philosophen studiert, in der nicht
referiert werden sollte, sondern in der wir uns in kleiner Runde
austauschen über uns und unser Denken. Der
Gedanke war mir gekommen, als ich Hegel las und verstand, daß
er nur zu verstehen ist, wenn man sein Leben kennt. Im Kontrast
dazu hatte ich Philosophie-Kolloquien in Jena erlebt, wo jeder
der Referenten was anderes erzählt, ohne zu zeigen, wie er
dazu kommt und die Zuhörer nur noch brav mitpinselten.
Inhaltlich formuliert die Praxisphilosophie genau die Frage, um
die auch mein Denken kreist:
"Wie ist trotz der Tatsache, daß wir biologisch und
gesellschaftlich bestimmt sind, freie Tätigkeit möglich?"
(Markovic in /3/ 165) und als Aufgabe wird gestellt: die "Hindernisse
und Zwänge zu analysieren, die dem handelnden und aktiven
Subjekt versagen, seine absichtlichen Ziele zu erreichen."
(J.Isreal in /3/ 133).
Wichtig ist inhaltlich die Orientierung auf die Offenheit,
die Potentialität, die in meiner Ausgangsphilosophie
(Hörz) zwar drinsteckt, aber nicht so offensiv ausargumentiert
und ausgereizt wird wie möglich und notwendig.
Dies zeigt sich auch für das Menschenbild -
bei dem der "ML" seine größten Lücken
hat. Auch das Konzept des Menschen als "biopsychosoziale
Einheit" erfaßt ihn eher als Summe der entsprechenden
Einflußfaktoren und nicht als sinn- und richtungsgebene,
höchste Form der schöpferischen Materie.
Für die Gesellschaftstheorie ist das Praxiskonzept
grundlegend. Gesellschaft als selbstorganisierendes Geflecht verschiedener
Praxen... / die dialektische Zirkularität von Humanisierung
der Natur und Naturalisierung des Menschen... sollte eine Integration
von Wissen über Menschen, Dialektik, Selbstorganisationskonzept
und aktueller Situation ermöglichen. Was strenggenommen fehlt,
ist einzig die Natur als schöpferischer Wirklichkeitsbereich,
weil nach der Praxisphilosophie nur die Einheit Mensch-Natur betrachtet
und als schöpferisch gefunden wird.
Vorsichtiger behandeln würde ich die praktizierte Aufgabe
der "Grundfrage" und das Desinteresse für die Natur
vor der Existenz der Menschen. Beidem ließe sich durch eine
Beachtung der Dialektik sicher abhelfen. Bei der Grundfrage geht
es nicht um die Nichtexistenz oder -Einflußnahme von Materie
oder Geist, sondern nur ums Primat. Die Naturdialektik unter Beachtung
der Dialektik des erkennenden (individuellen und gesellschaftlichen)
Bewußtseins sollte auch erfaßbar sein und nicht aus
dem Interesse herausfallen (bei Bloch geht es ja auch).
Zur Abrundung meiner Beschäftigung mit der Praxisphilosophie
habe ich mir aus meiner Sammlung der Broschüren "Zur
Kritik der bürgerlichen Ideologie" diejenigen durchgesehen,
die sich auf die Praxisphilosophen beziehen. Der Text besteht
tatsächlich nur aus diffamierenden Bemerkungen im Oberlehrerstil.
Eine inhaltliche Argumentation meint man sich sparen zu können,
weil die Inhalte ja eh nur dem "antikommunistischen Charakter"
untegeordnet seien...(u.a. /6/ 22).
Ich selbst brauchte vielleicht auch erst
die Erfahrung der absoluten Entwicklungsschranke des Staats-Sozialismus.
Ich wäre sonst sicher nicht so suchend auf dem Weg gewesen
und hätte nicht verstanden, was die Entfremdungs- und Industrialisierungskritik
eigentlich will (das hat wiederum etwas mit meiner -nichtentfremdeten
- Lebenspraxis im Sozialismus zu tun). Wenn man jetzt wiederum
nicht die Praxisphilosophie als Dogma nimmt, ist es faszinierend,
wie stark sich viele verschiedene Denkansätze der Kritk der
gegenwärtigen Gesellschaft integrieren lassen. Bei allen
Sünden des "ML" - auch innerhalb seiner Entwicklung
wurde einiges vorbereitet, was sich nutzen läßt. Die
"Kritiken..." gehören nicht dazu. Ich verstehe
auch jetzt erst einmal, wie schwer es gewesen sein muß,
die neuen und wichtigen Dinge tröpfchenweise einfließen
zu lassen. Daß sie in der "Wende" nicht zum Zuge
kamen (außer in der Installation der Treuhand, die ursprünglich
von Selbstorganisations-Denkern vorgeschlagen wurde), hängt
auch mit der Theorielosigkeit der Opposition zusammen. Hoffentlich
passiert das nicht noch einmal...
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/1/ Kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis
- Auseinandersetzungen mit der Marxschen Theorie nach dem Zusammenbruch
des Realsozialismus, Hrsg: Eidam, H. u. Schmied-Kowarzik, W.,
Kassel 1995
/2/ Müller, H.: Praxis und Hoffnung, Studien zur Philosophie
und Wissenschaft gesellschaftlicher Praxis von Marx bis Bloch
und Lefebvre, Bochum 1986
/3/ Die Praxis und das Begreifen der Praxis. Vorträge einer
interdisziplinären Arbeitstagung vom 20.-23. Juni 1984, Kasseler
Philosophische Schriften 13, 1985
/4/ Immler, H., Schmied-Kowarzik, W.: Natur und Marxistische Werttheorie,
Kassel 1988
/5/ Eidam, H., Schmied-Kowarzik, W.: Natur - Ökonomie - Dialektik.
Weitere Studien zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft,
Kasseler Philosophische Schriften 26, Kassel 1989
/6/ Julier, E.: Weder modern noch marxistisch - Zur Marx-Interpretation
des heutigen Revisionismus, 1974
/7/ Shiva, V.: Das Geschlecht des Lebens. Frauen, Ökologie
und Dritte Welt, Berlin 1989
/8/ Mies, M., Shiva, V.: Ökofeminismus, Zürich, 1995
- 18.-19.11.95 - Annette Schlemm
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